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Ausgabe 02 | 2024: Bedrohte Vielfalt
Schwerpunkt
Ahmet Sinoplu will bald möglichst mit dem Demokratie-Wagen starten und für die Europawahl mobilisieren.

„Die Realität ist bereits superdivers“

Der gesellschaftliche Bedarf an rassismuskritischen und demokratieunterstützenden Projekten wächst, während die Förderungen gleichbleibend bis rückläufig sind. Auch die Belastung der Mitarbeitenden von solchen Projekten steigt – sie brauchen mehr Unterstützung.

Im Hof in Köln Ehrenfeld steht ein Vintage-Wohnwagen: Bunt bemalt mit Graffiti, der Schriftzug deutet sowohl auf den Namen als auch auf das Projekt hin. Der „Demokratie-Wagen“ von Coach e.V. ist zwar geboren aus einer „Schnapsidee“, aber seit 2022 erfolgreich im Einsatz: Auf Festivals, an öffentlichen Plätzen, auch buchbar, steht der Wohnwagen bereit, um demokratische Prozesse im Kleinen erfahrbar zu machen – wie die U16-Junior-Wahl zur Europawahl. Denn laut Geschäftsführer Ahmet Sinoplu ist Demokratie nicht selbstverständlich, sie muss gelehrt werden, „Wir machen das hier, der Wagen ist wie ein Magnet, er zieht die Leute an.“ 

Dann sitzen seine Jugendlichen an den selbstgebauten Stühlen im blau bemalten Wagen, führen Abstimmungen durch, machen Planspiele und streiten: „Das ist ein Ziehen und Ringen.“ Das gehöre dazu, aber es lohne sich, denn „die Demokratie biete Teilhabe und auch eine Antwort auf Verdruss“.

Die Kölner Initiative Coach e.V. ist eine außerschulische, pädagogische Einrichtung, die sich als Träger der freien Jugendhilfe für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit von jungen Menschen sowie ihren Familien mit Zuwanderungsgeschichte in Köln einsetzt. Laut dem Diplom-Sozialarbeiter sei sie als gemeinnützige Migrant*innenselbstorganisation gestartet, jetzt könne sie als neu-deutsche Organisation verstanden werden. „Wir sprechen bewusst viele Teile der Gesellschaft an, bieten Hausaufgabenhilfe als Einfallstor und hierüber viele Angebote für Jugendliche, aber auch Multiplikator*innenschulungen, die Empowerment-Akademie, kultursensible Beratung oder Trainings zum Thema Rassismuskritik.“ Sprich: Wenn es Angebote für eine vielfältige Gesellschaft gebe, dann eben von und mit der gesamten Gesellschaft. Die Herausforderungen seien dabei größer geworden. 

Mehr Arbeit, weniger Geld

„Die fetten Jahre sind vorbei", sagt Sinoplu, 2015 gab es eine Willkommenskultur, mittlerweile seien zumindest bei Coach e.V. in Köln viele Programme ausgelaufen, unter anderem habe die Landesregierung Nordrhein-Westfalen das Projekt „Gemeinsam klappt’s“ und „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ nicht weiterfinanziert. „Das ist wie ein Schlag ins Gesicht für engagierte Menschen“, so der Geschäftsführer. Insgesamt seien 3 von 20 Stellen nur dauerhaft gesichert, andere förderabhängig. Hört die Arbeit auf, wenn die Förderung stoppt?

Sinoplu meint, es gebe viel zu tun:  Mehr Menschen mit multikulturellem Hintergrund seien in Deutschland und hier herrsche mehr Bewusstsein dafür. „Kinder von Einwander*innen erheben jetzt ihre Stimme, wollen mehr Teilhabe, mehr Chancengleichheit, das bleibt nicht unbeantwortet.“ Parallel dazu laufe der Rechtsruck in Europa, der die Menschen bis in die Mitte der Gesellschaft aufschrecke. Der Diplom-Sozialarbeiter spricht auch vom Integrationsparadox nach dem Soziologen Aladin El-Mafaalani. „Da, wo Integration mehr gelingt, sind mehr Konflikte, muss mehr ausgehandelt werden.“ Braucht die Gesellschaft mehr Unterstützung dabei?

Das Team von Coach e.V. ist multikulturell und man spricht viele Sprachen: Lemi Karaca (links) ist aus der Türkei und macht jetzt unter anderem einen Podcast mit Jugendlichen.

Einer Evaluation der Beratungsstrukturen gegen Rechtsextremismus und Rassismus in Nordrhein-Westfalen (Johann Daniel Lawaetz-Stiftung, 2022) nach sind „die Herausforderungen im Themenfeld Rechtsextremismus und Rassismus (…) in den letzten Jahren unabweisbar gestiegen.“ Andererseits lässt sich − bezogen auf das Ausgangsjahr 2014 − sowohl für die Mobile Beratung (2020 = 220 Fälle gegenüber 109) wie für die Opferberatung (2020 = 72 Fälle gegenüber 55) ein Anstieg des Fallaufkommens abbilden. Zugleich ist damals die Förderung der drei Beratungsbereiche (mobile Beratung, Opferberatung und Ausstiegsberatung) zwischen 2015 und 2021 durch den Einsatz von Landes- und Bundesmitteln erheblich ausgebaut worden; gegenüber 2015 (1.133.000 €) hat sich die Förderung bis 2021 (2.404.068 €) um 112% erhöht. Und dann?

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Vorschläge gibt es zur Genüge

Ansgar Drücker ist Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) in Düsseldorf, bei dem auch die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt angesiedelt ist. Drücker sagt: „Der Angriff auf Menschen nimmt zu“, zugleich gebe es sehr aufwändige Fälle. Auch Ehrenamtler*innen vor Ort seien davon betroffen. Mitarbeitende sehen sich zunehmend selbst Angriffen gegenüber, noch mehr, wenn sie einen Migrationshintergrund haben. So würden Menschen, die sich für die Gesellschaft einsetzten, stigmatisiert, aber: „rassismuskritische Arbeit findet in der Mitte der Gesellschaft statt und sollte nicht als linksideologisch abgestempelt werden“, so Drücker. Er empfehle immer, wenn Träger angegriffen werden, dass sie auf ihre eigene Fachlichkeit setzen.

Auch Anfragen in politischen Gremien halten die Träger auf Trab: „Wir erleben zunehmend, dass von der AfD kritische Anfragen gestellt werden, vor allem in den Bereichen ihrer Hauptkampfthemen, wie zum Beispiel Schwangerschaftsabbrüche.“ Diese öffentlichen Stigmatisierungen und Verunsicherungen würden Misstrauen säen und schließlich auch Entscheidungsträger*innen in Bezug auf Förderungen verunsichern. Dabei bräuchten die Träger Rückendeckung.

Ansgar Drücker ist neben seiner Tätigkeit bei IDA selbst ehrenamtlich Vorsitzender von Flüchtlinge Willkommen in Düsseldorf. IDA sammelt Informationen aus den Themenbereichen Rassismus und gibt sie an interessierte Personen und Organisationen weiter. Dies sind vorwiegend Träger aus der Jugendarbeit.

„Insgesamt ist das Glas halb leer, oder halb voll, je nachdem wie man es sieht“, so der Geschäftsführer. „Die Höhe der Zuwendungen ist eingefroren und damit faktisch rückläufig, da sie nicht an die Reallohnentwicklungen angepasst werden“, sagt Drücker. Es gebe zudem viele Baustellen, die politisch angegangen werden müssten. Drücker nennt unter anderem, das in der Ampel umstrittene Demokratiefördergesetz, das eine dauerhafte Förderung der Angebote absichern würde. Ohne dieses herrschten Unsicherheit, Bürokratie und Probleme bei der Personalgewinnung vor. Das alles binde Ressourcen, die in der Arbeit fehlen.

Höherer Bedarf im ländlichen Raum

Vorschläge stehen auch in der Evaluation der Johann Daniel Lawaetz-Stiftung, demnach könnte ein höheres Fallaufkommen erzeugt werden. Damit die tatsächlichen Bedarfe der Gesellschaft hinsichtlich der Beratungsstrukturen gedeckt werden, sollten demnach zusätzliche Büroräume sowie zusätzliche Stellen geschaffen werden. Eine Empfehlung der Evaluation ist zudem die Ausweitung an Mobilitätsmöglichkeiten im ländlichen Raum, zum Beispiel durch Carsharing.  

Ahmet Sinoplu von Coach e.V. sucht nach dem Schlüssel vom Demokratie-Wagen und rennt durch die Flure von Coach e.V. An einer Wand hängt ein interreligiöser Kalender, mit Feiertagen verschiedener Religionen. „Die Realität ist bereits superdivers“, meint der Geschäftsführer, die Menschen sollten vor den Öffnungsprozessen keine Angst haben, es sei genug für alle da. Der Diplom-Sozialarbeiter steht mit dem Schlüssel in der Hand am Wagen und schließt ihn auf. Europa und die Europawahl sei sehr wichtig für uns und  warnt: „Wir müssen jetzt mobilisieren, jeder zweite Jugendliche will nicht wählen gehen.“ Dabei gelten europäische Gesetze für Deutschland: „Das sind Gesetze, die LSBTIQ* betreffen, andere Minderheiten und auch die Förderprogramme. Die EU bietet Antworten auf so viele Fragen“, sagt Sinoplu. Die Demokratie selbst sei dabei die beste Antwort in allem Üblen.

Annabell Fugmann

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